Zwischen Idyll und Skandal? Nutztierhaltung im Spannungsfeld
Die Nutztierhaltung ist umstritten. Was aber erwartet die Gesellschaft eigentlich von ihr? Und wie kann die Landwirtschaft mit diesen Erwartungen umgehen?
Die Nutztierhaltung sorgt für hitzige Debatten. Im Fokus stehen Tierquälerei, Umweltverschmutzung und Antibiotikaresistenzen. Nutztierhaltende Landwirte sehen sich oftmals an den moralischen Pranger gestellt. Zugleich aber kann festgehalten werden, dass die Nutztierhaltung durchaus auch gesellschaftlich wertgeschätzt wird: Umfragen zeigen immer wieder, dass »Landwirt« als einer der wichtigsten Berufe überhaupt gilt (gleich hinter »Arzt« und »Lehrer«). Darüber hinaus konsumieren die allermeisten Menschen nach wie vor täglich tierische Produkte – auch dies ist ein Akt des Vertrauens und der Wertschätzung.
Erwartungen an die Landwirtschaft
Was aber erwarten die Menschen von der Landwirtschaft eigentlich? Stellt man diese Frage der deutschen Bevölkerung, bekommt man grob zusammengefasst folgende Antworten: Die Landwirtschaft soll die Bevölkerung mit einer Vielfalt an gesunden und unbedenklichen Produkten versorgen, sie soll die wirtschaftlichen Aktivitäten und die Beschäftigung im ländlichen Raum aufrechterhalten, sie soll Umwelt- und Klimaschutz betreiben und den Tierschutz berücksichtigen. Diese Antworten zeigen Zweierlei: (1) Von Landwirtschaft wird mittlerweile mehr erwartet als »bloß« Nahrungsmittel bereitzustellen. Dabei ist es gerade der Erfolg der Landwirtschaft in den letzten hundert Jahren, der diese Ausdifferenzierung möglich gemacht hat, denn: Wo die Nahrungsmittelversorgung durch zu geringe Ernteerträge nicht sichergestellt ist, dort geht es hinsichtlich der Erwartungshaltung an Landwirtschaft um Nahrungsmittel – und ausschließlich um Nahrungsmittel. (2) Zum anderen spiegeln sich in den Erwartungen zentrale gesellschaftliche Werte unserer Zeit wider.
Erleben wir also einen Wertewandel? Ja und nein. Wir diskutieren heute sicherlich anders über die Landwirtschaft als noch vor hundert oder fünfzig Jahren, aber: Diagnosen, die behaupten, dass den Menschen »Tierwohl« heute ein wichtiges Anliegen sei, sind dennoch kritisch zu hinterfragen. Spätestens beim Zahlen an der Kasse wird der Wunsch nach mehr Tierwohl nämlich oft entlarvt. Es ließe sich polemisch zusammenfassen: Dem Bürger ist »Tierwohl« ein entscheidendes Anliegen – als Verbraucher aber ist er nicht immer bereit, auch tatsächlich mehr dafür zu bezahlen.
Entspannt – oder doch krank?
Mit Blick auf das Tierwohl stellt sich nicht nur die Frage der Zahlungsbereitschaft, sondern auch: Wie wird das Wohlergehen von Tieren überhaupt wahrgenommen? Eine Studie (Busch et al. 2015) zeigte Konsumenten und Landwirten Fotos aus Ställen. Die unterschiedlichen Einschätzungen sind bemerkenswert: Eines der Fotos zeigte beispielsweise liegende Tiere in einem Stall. Während die Landwirte dazu tendierten, den Zustand der Tiere als »entspannt« zu beschreiben, fragten viele der Verbraucher – beim identischen Foto –, ob die Tiere denn »krank« seien. Dies mag nahezu humoristisch klingen, es hat aber durchaus schwerwiegende Konsequenzen, vor allem wenn es um die Kommunikation der landwirtschaftlichen Arbeit geht. Um ein Beispiel zu bringen: Eine Landwirtin kann ein Foto auf ihrer Website publizieren und davon überzeugt sein, dass es Ausdruck dafür ist, dass sie sich gut um ihre Tiere kümmert – und dennoch kann dieses Foto beim Verbraucher ganz andere – und zwar negative – Assoziationen wecken.
Was bedeutet Tierwohl?
Es ist zu vermuten, dass die allermeisten Konsumenten keine eigentliche Definition von »Tierwohl« geben könnten. Was ist unter diesem Konzept zu verstehen? In den »Animal Welfare«-Wissenschaften wird es oft wie folgt definiert: Tierschutz sind die Maßnahmen, die der Mensch ergreift – Tierwohl ist das, was subjektiv beim Tier ankommt. Ethisch betrachtet meint Tierwohl dabei mehr als nur Leidvermeidung. Dem »klassischen« Tierschutzgedanken folgend, ist ein Tier eine leidensfähige Kreatur und wir haben die moralische Pflicht, solchen Wesen Leid zu ersparen. Tierwohlkonzepte aber fragen: Genügt das? Leidensfreiheit ist sicherlich eine Art Vorbedingung für »Wohlergehen« – aber ein gutes Leben zeichnet sich doch durch wesentlich mehr aus, beispielsweise durch die Möglichkeit, das natürliche Verhaltensrepertoire ausleben zu dürfen. Das Konzept »Tierwohl« versucht demnach, über den »klassischen« (leidvermeidenden) Tierschutz hinauszugehen und näher zu beschreiben, wie tiergerechte(re) Haltung möglich ist. Ein berühmtes Beispiel sind die sogenannten »Fünf Freiheiten«, entwickelt vom Farm Animal Welfare Council. Ein Tier soll demnach
– frei sein von Hunger und Durst; es soll Zugang zu frischem Wasser und gesundem und gehaltvollem Futter haben;
– frei sein von haltungsbedingten Beschwerden; es soll eine geeignete Unterbringung (z. B. einen Unterstand auf der Weide), adäquate Liegeflächen etc. haben;
– frei sein von Schmerz, Verletzungen und Krankheiten; es soll durch vorbeugende Maßnahmen, bzw. schnelle Diagnose und Behandlung versorgt werden;
– frei sein von Angst und Stress;
– schließlich die Freiheit zum Ausleben normaler Verhaltensmuster haben; z. B. durch ausreichendes Platzangebot, durch Gruppenhaltung, die „soziales Leben“ ermöglicht, etc.
Diese Freiheiten zeigen, inwieweit »Tierwohl« mehr meint als »nur« Leidvermeidung, wie er im »klassischen« Tierschutz zentral ist.
Ein Gedankenexperiment
Kommen wir zurück zu den Erwartungen der Gesellschaft an die Landwirtschaft. Diese könnten in eine einfache Formel gebracht werden: Wenn Landwirtschaft die (Grund)Bedürfnisse erfüllt und die zentralen ethischen Wertvorstellungen einer Gesellschaft (wie beispielsweise Klima- und Tierschutz) berücksichtigt, dann erfüllt sie die gesellschaftlichen Erwartungen. Wie bei jeder einfachen Formel stellt sich jedoch die Frage: Stimmt sie denn auch?
Zur Beantwortung soll auf ein Gedankenexperiment eingegangen werden: Stellen Sie sich einen hoch-technisierten Bauernhof vor. Die Fütterung der Tiere erfolgt computergesteuert. Die medizinische Überwachung geschieht durch zahlreiche Sensoren, die die relevanten Daten per App direkt aufs Smartphone schicken. Zur Kontrolle des Bestands fliegen Drohnen durch den Stall und über den Auslauf. Wichtig für das Beispiel ist: Dieser Hof erfüllt die zuvor genannten Erwartungen, sprich er produziert gesunde und unbedenkliche Produkte, er schafft und sichert Arbeitsplätze im ländlichen Raum (zumindest für die IT-Branche), er weist eine gute Klimabilanz und hohe tiergerechte Standards auf. Löst ein derartiger Hof, obwohl er alle genannten Erwartungen erfüllt, bei vielen Menschen nicht dennoch ein »Verlustgefühl« aus, im Sinne von »da ist etwas verloren gegangen« bzw. »da fehlt etwas«? Wenn ja: Wie ist das zu verstehen?
Beschaulich und ursprünglich?
Eine Erklärung skizziert die gesellschaftliche Erwartungshaltung an Landwirtschaft anders als in der zuvor beschriebenen Formel, nämlich: Es geht nicht nur um Grundbedürfnisse und Wertorientierungen, darüber hinaus spielen auch Bilderwelten und Vorstellungen wie beispielsweise »Ursprünglichkeit« eine entscheidende Rolle. Landwirtschaftliche Tätigkeit steht oftmals nach wie vor für das einfache, ursprüngliche und wahre Leben in und mit der Natur. Bauer zu sein bedeutet – gerade in Werbungen oder auch in urbanen Aussteigerträumen – ein Leben zu führen, wie es einst war und es eigentlich sein soll. Diese »Romantisierung« des Bäuerlichen vollzieht sich dabei wesentlich im Urbanen und ist nicht zuletzt als eine Reaktion auf einen Zivilisationsüberdruss zu verstehen.
Diese Assoziation von Landwirtschaft und Ursprünglichkeit wird besonders in den gängigen Strategien des Agrarmarketings deutlich. Während zahllose nicht-landwirtschaftliche Produkte mit dem Hinweis auf Innovation und Fortschritt verkauft werden, scheinen Produkte aus der Landwirtschaft einer anderen Logik in der Wahrnehmung der Konsumenten zu unterliegen. Statt moderner Produktionsbedingungen scheint der Käufer hier eher technikferne Idylle zu wünschen. Oder gibt es Milch, die mit dem Slogan wirbt »Wir haben die modernste Melkanlage der Welt«?
Persönliche Begegnung
Das Agrarmarketing setzt diese Bilderwelten und Vorstellungen einer ursprünglichen, beschaulichen Landwirtschaft durchaus geschickt ein. Die Alternative, nämlich auf Moderne und Innovation zu setzen, ist denkmöglich, wird aber nur zu einem geringen Teil in Anspruch genommen. Es soll hier aber keine Radikalkritik am Marketing erfolgen: Warum sollte sie nicht beliebte Bilder dafür einsetzen, um positive Gefühle auszulösen? Jedoch ist darüber zu reflektieren, ob die alleinige Inszenierung der Landwirtschaft als Idylle nicht auch kontraproduktive Konsequenzen hat, insofern sie beispielsweise Entfremdungstendenzen fördert. Dass ein neuer, großer, moderner Stall von vielen Menschen automatisch als weniger tiergerecht beurteilt wird als ein kleiner, alter, beschaulicher ist wohl nicht zuletzt als ein Resultat derartiger Bilderwelten zu verstehen.
Der durchschnittliche Deutsche begegnet dem Thema »Landwirtschaft« oftmals entweder als »Skandal« auf den Titelseiten oder als »Idyll« in der Werbung und auf den Verpackungen. Eine sachliche Debatte wird dadurch nicht leichter. Vor diesem Hintergrund ist die persönliche Begegnung zwischen Verbraucher (bzw. Bürger) und Landwirt umso wichtiger. Initiativen wie ein »Tag der offenen Stalltür« oder »Schulklassen besuchen einen Hof« sind von entscheidender Bedeutung und bedürfen weiterer Unterstützung. Wenn überhaupt, dann kann nur so die dringend notwendige Debatte gelingen, welche Nutztierhaltung wir als Gesellschaft gemeinsam eigentlich verantworten können und wollen.
Dr. Christian Dürnberger, Messerli Forschungsinstitut, Vetmeduni Vienna
Busch, G., Gauly, S., Spiller, A. (2015): Wie wirken Bilder aus der modernen Tierhaltung der Landwirtschaft auf Verbraucher? Neue Ansätze aus dem Bereich des Neuromarketings. In: Schriftenreihe der Rentenbank, Band 31, Die Landwirtschaft im Spiegel von Verbrauchern und Gesellschaft, S. 67-94.