Milchfieber? Tageslicht kann schützen
Wenn Kühe im Geburtszeitraum festliegen, dann liegt das häufig an einem Kalziummangel, ausgelöst durch den plötzlich einsetzenden hohen Bedarf für die Milchproduktion. Die Abteilung Veterinär-Physiologie der Vetsuisse Fakultät der Universität Bern hat kürzlich eine Untersuchung dazu durchgeführt, ob man auch mit natürlichen Mitteln gegensteuern kann. „Man kann“, sagt Prof. Dr. Rupert Bruckmaier. MilchPur hat mit ihm gesprochen.
MilchPur: Herr Professor Bruckmaier, das „Milchfieber“ ist bei unseren Kühen immer noch ein wichtiges und relativ häufiges Problem, das meistens in den ersten Tagen nach dem Abkalben auftritt. Die betroffenen Kühe „schwächeln“ oder liegen gleich fest und können nicht mehr aufstehen. Was steckt dahinter?
Prof. Bruckmaier: Ja, tatsächlich ist es gar nicht so selten, dass das Milchfieber vorkommt. Je nach Rasse, Leistung und Fütterung können 5 bis 10 % der Abkalber oder auch mehr davon in einem Bestand betroffen sein. Ursache für das Milchfieber bzw. das Festliegen nach der Geburt ist ein Kalziummangel im Blut, wodurch die Versorgung der Muskulatur mit Kalzium beeinträchtigt ist und so die Funktion der Muskeln nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Muskeln brauchen Kalzium, damit sie sich zusammenziehen können und so hat die Kuh ohne Kalzium schlichtweg keine Kraft mehr. Sie wird so schwach, dass sie nicht mehr aufstehen kann und wenn man hier nicht eingreift, kann die Kuh daran auch sterben, weil die lebenswichtigen Muskeln wie das Herz oder die Atmungsmuskulatur nicht mehr richtig funktionieren.
MilchPur: Wie kommt denn dieser Kalziummangel zustande?
Prof. Bruckmaier: Milch enthält viel Kalzium, etwas mehr als ein Gramm pro Liter. Das muss sie auch, weil Milch die einzige Nahrung für das Neugeborene bei den Säugetieren ist. Milch muss also nicht nur Energie und Eiweiß und sonstige Nährstoffe liefern, sondern auch die Mineralstoffe für den Aufbau und das Wachstum der Knochen des Jungtiers. Wenn also mit der Geburt die Milchpurduktion einsetzt, steigt der Kalziumbedarf für die Milch schlagartig. Dazu kommt, dass bei der Milchkuh durch Züchtung die Milchleistung erheblich gesteigert wurde, sodass insgesamt der Bedarf an Kalzium enorm hoch ist.
MilchPur: Wie deckt eine Kuh ihren Kalziumbedarf? über das Futter?
Prof. Bruckmaier: Im Prinzip ja. Insgesamt kommen alle Nährstoffe für die Kuh über das Futter, also auch das Kalzium. Ein Problem ist aber, dass die Kalziumaufnahme über den Darm einem biologischen Steuerungsmechanismus unterliegt, der nicht in kürzester Zeit von Null auf Hundert hochreguliert werden kann. Die Kuh muss also den Kalziumbedarf auch aus internen Vorräten decken und einen großen Vorrat an Kalzium enthalten die Knochen der Kuh. Aber auch die Mechanismen zur Mobilisierung von Kalzium aus den Knochen werden über Hormone gesteuert und brauchen etwas Zeit für ihre Aktivierung. Deshalb kann es während der ersten Tage nach dem Abkalben vorübergehend zu einem Absinken der Kalziumspiegel im Blut kommen. Da Kalzium in verschiedenen Bereichen des Stoffwechsels der Kuh eine Rolle spielt, und wie schon vorhin erläutert insbesondere für die Funktion der Muskulatur essentiell ist, kann ein zu starkes Absinken der Kalzium-Konzentration zu einer bedrohlichen Hypocalcämie führen, im Extremfall zum Festliegen und zum Tod.
MilchPur: Wie kann man dieser gefürchteten Hypocalcämie vorbeugen?
Prof. Bruckmaier: Es gibt eine Reihe von vorbeugenden Maßnahmen gegen Hypocalcämie. Die vielversprechendste ist die prophylaktische Verabreichung von Kalzium in der Phase, wo der Mangel auftritt, also beginnend kurz vor der Geburt und in den ersten Tagen nach der Kalbung. Aber auch die Verabreichung von Vitamin D kommt gelegentlich erfolgreich zur Anwendung. Vitamin D erhöht die Resorption von Kalzium aus dem Darm und die Freisetzung aus den Knochen und kann somit auch zur Verringerung der Mangelsituation für die Kuh beitragen.
MilchPur: …und dazu haben Sie in Bern eine Studie gemacht?!
Prof. Bruckmaier: Ja, wir haben in der Abteilung Veterinär-Physiologie der Vetsuisse Fakultät der Universität Bern eine Studie gemacht, die zum Ziel hatte, den Vitamin D-Gehalt auf natürliche Art zur erhöhen und so das Hypocalcämie-Risiko zu senken. Wir haben gesehen, dass der Kalziumgehalt im Blut am Beginn der Laktation nur wenig absinkt, wenn Galtkühe (das sind trockenstehende Kühe) in den Tagen vor dem Abkalben dem Tageslicht im Freien ausgesetzt sind. Dadurch ist das Risiko für Milchfieber reduziert. Unser Erklärungsansatz: Durch mehr Tageslicht steigt der Vitamin D-Gehalt im Blut an. Das verbessert die Aufnahme von Kalzium aus dem Darm und reduziert den Kalzium-Verlust über die Nieren.
MilchPur: Verraten Sie uns einige Details dieser Studie?
Prof. Bruckmaier: Ja, in unserem Versuch in der Veterinär-Physiologie, die übrigens durch die Velux Stiftung in Zürich finanziell unterstützt wurde, wurden 20 Holstein-Kühe der Forschungsanstalt Agroscope in Posieux getestet. Die Kontrollgruppe mit zehn Tieren kalbte abgeschieden in einer geräumigen, aber mäßig beleuchteten Abkalbebox, so wie es in der Praxis in der Schweiz weit verbreitet ist. Die Tageslicht-Gruppe war dagegen während der letzten Woche vor dem errechneten Kalbetermin tagsüber dem Tageslicht ausgesetzt. Diese Tiere mussten sich tagsüber im Freien aufhalten. Hierfür wurde im Laufhof vor der Abkalbebox eine provisorische Überdachung aufgebaut, sodass die Stroh-Einstreu bei Regen nicht nass wurde, aber das Sonnenlicht ungehindert auf die Tiere einwirken konnte. Während der Nacht wurde die Barriere zwischen Stall und Laufhof entfernt und die Kühe konnten wählen, ob sie sich lieber im Freien oder im Abkalbestall aufhalten wollten. Die Fütterung der beiden Gruppen war gleich.
MilchPur: Und welche Ergebnisse konnten Sie aus diesem Versuch ableiten?
Prof. Bruckmaier: Wir haben gesehen, dass es keine Unterschiede bei der Futteraufnahme oder bei der Milchleistung nach der Kalbung zwischen den beiden Gruppen gegeben hat. Die Tageslicht-Gruppe zeigte am Tag der Geburt und am Tag danach im Gegensatz zur Kontrollgruppe kaum einen Rückgang der Kalzium-Werte im Blut. Ab Tag 3 nach der Geburt war der Wert dann in beiden Gruppen wieder stabil. Das ist normal, da innerhalb von zwei bis drei Tagen die hormonellen Systeme entsprechend dem Bedarf die Resorption von Kalzium aus dem Darm, aber insbesondere dessen Mobilisierung aus den Knochen auch bei älteren Kühen deutlich erhöhen. Die riskanteste Phase für Hypocalcämie sind deshalb der Tag der Kalbung und der Tag danach und hier scheint die Lichteinwirkung diese kritische Phase zu entschärfen.
MilchPur: Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie daraus?
Prof. Bruckmaier: Nun, bei diesen 20 Kühen konnten wir sehen, dass das Risiko für eine Hypocalcämie durch die Tageslichtexposition während der Tage vor der Kalbung scheinbar deutlich entschärft werden konnte. Ein Blick auf die Daten zeigt aber, dass der Verlauf der Kalzium-Konzentration im Blut zwischen den Tieren stark variierte. Wir haben gesehen, dass drei Kühe aus der Kontrollgruppe, aber auch eine Kuh aus der Tageslicht-Gruppe nach der Abkalbung an Symptomen von Hypocalcämie litten. Das heißt für mich, auch wenn die Ergebnisse sehr vielversprechend sind, ist ein weiterer Test der Praxistauglichkeit mit einer größeren Tierzahl unumgänglich.
MilchPur: Herr Prof. Bruckmaier, würden Sie zum jetzigen Zeitpunkt aus diesem Versuch schon irgendwelche Empfehlungen für unsere Leser aussprechen?
Prof. Bruckmaier: Auch wenn wir Wissenschaftler recht vorsichtig sein müssen mit Aussagen, weil sie einer unabhängigen fachlichen Nachprüfung jederzeit standhalten müssen, so kann ich sagen, dass Tageslicht für Trockensteher in den Wochen vor der Geburt offenbar nützlich sein kann, um den Vitamin D-Spiegel anzuheben und so Festliegen vorzubeugen. Über diesen speziellen Effekt hinaus ist natürlich Bewegung, Licht und frische Luft besonders für Trockensteher immer zu begrüßen.
MilchPur: Es gibt ja heute zunehmend Stallbeleuchtungssysteme, die das natürliche Tageslichtspektrum nachahmen und mit denen man eventuell dieses Tageslicht auch in den Stall oder in den Trockensteherbereich bringen könnte. Haben Sie dazu schon Daten sammeln können?
Prof. Bruckmaier: Natürlich haben wir auch darüber nachgedacht, wie man diesen Effekt auch erzielen könnte, wenn keine Möglichkeit besteht die Kühe nach draußen zu bringen bzw. zu lassen. Moderne LED-Technologie bietet hier enorm viele Möglichkeiten, die auch wirtschaftlich interessant sein können. Wir haben dazu aber noch keine konkreten Daten oder Ergebnisse gesammelt. Ich hoffe, dass wir diese Frage in Kürze auch untersuchen können. Wir von der Abteilung Veterinär- Physiologie der Vetsuisse Fakultät der Universität Bern sind jedenfalls immer für entsprechende Untersuchungen bzw. Kooperationen offen.
MilchPur: Herr Prof. Bruckmaier, wir bedanken uns für das Gespräch!
Prof. Dr. Rupert M. Bruckmaier ist Jahrgang 1959 und in Schliersee geboren. Nach dem Studium der Agrarwissenschaften/ Tierwissenschaften und der Promotion an der Technischen Universität München (TUM) war er von 1988 bis 1998 bereits in der Schweiz um als Postdoc und Assistent zu arbeiten und sich an der Universität Bern zu habilitieren. Es folgten sieben Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TUM, wo er 2003 zum außerplanmäßigen Professor ernannt wurde. Seit Oktober 2005 ist er Professor für Veterinär-Physiologie und Leiter der Abteilung Veterinär-Physiologie an der Universität Bern. Schwerpunkte seiner Forschungsarbeiten sind die Stoffwechselphysiologie bei hochleistenden Milchkühen, die Physiologie der Laktation mit dem Schwerpunkt der Neurophysiologie der Milchabgabe sowie die Immunphysiologie der Milchdrüse und die Immunreaktion bei Mastitis.