Kälberdurchfall hausgemacht!
Für viele Landwirte gehören Durchfälle bei neugeborenen Kälbern zum Tagesgeschehen und sind somit eher die Regel, als die Ausnahme. Aber müssen wir wirklich mit solchen Durchfällen bei den äußerst empfindlichen Jungkälbern leben?

Von Natur aus bekommt ein Kalb so schnell keinen Durchfall. Darauf sollten wir uns wieder zurückbesinnen. Die optimale Versorgung mit Biestmilch und die Übertragung der überlebenswichtigen Inhaltsstoffe ins Blut des Kalbes ist gleichzeitig die stärkste Vorbeugemaßnahme. Foto: Zieger
Durchfälle bei Kälbern gibt es seitdem der Mensch das Rind als Haustier domestiziert hat. Je mehr der Mensch das Kalb von der Mutterkuh entfernt hat, desto empfindlicher und empfänglicher wurden die kleinen Noch-nicht-Wiederkäuer auch gegenüber allen möglichen infektiösen Durchfallerregern. Die Umstellung von der Biest- bzw. Muttermilch auf Milchpulver markiert auch nach vielen Jahrzehnten der Entwicklung der modernen Milchviehhaltung eine sehr problematische Zone, die bei vielen Kälbern zu fütterungs- und damit nicht infektiös bedingten Durchfällen führt.
Aktuelle Zahlen in Deutschland zeichnen demnach ein sehr ernüchterndes Bild. Nach der landesweit aufsehenerregenden PraeRi Studie der drei Vetmed-Universitäten Berlin, Hannover und München an fast 800 Betrieben durchlebt eins von vier Kälbern in den ersten drei Lebenswochen eine mehrere Tage andauernde Durchfallphase, die es in seiner Weiterentwicklung zum Teil weit zurückzuwerfen droht. Interessant ist in diesem Zusammenhang aber auch die Tatsache, dass im gleichen Zeitraum eines von drei Kälbern gleichzeitig auch an einer Nabelentzündung erkrankt. Vor diesem Hintergrund muss man deshalb die vielfältig möglichen Ursachen für das Durchfallgeschehen neu einordnen. Die meist unerkannte und deshalb weit unterschätzte Nabelentzündung (Nabel dicker als ein gewöhnlicher männlicher Zeigefinger!) gilt nunmehr als eine der wichtigsten Hauptursachen und Wegbereiter infektiöser Durchfälle.
Vorbild Supermächte
Ein Land, das diese Zusammenhänge neben den Nordamerikanern eindrucksvoll aufgedeckt hat, ist China. In den zahllosen Großbetrieben des Riesenreichs gibt es so gut wie keine Nabelentzündungen und das Auftreten von Durchfall liegt im unteren einstelligen Prozentbereich. Hier wird eine peinlich saubere Erstversorgung des neugeborenen Kalbes vorgenommen. Der komplette Unterbauch wird mit Einmalhandschuhen und rund 200 bis 300 ml Kaliumjodid-Lösung minutenlang desinfiziert, was dazu führt, dass die Kälber über Wochen hinweg zwar weithin sichtbar einen braunen Bauch aufweisen, aber so gut wie keine Nabelentzündung.
Aber auch im weiteren Verlauf in Sachen Sauberkeit und Hygiene sind die Chinesen das Vorbild schlechthin. In besagten Großbetrieben gehört es zur Tagesroutine, dass zwischen 9 und 10.30 Uhr alle Kälberutensilien wie Tränkestation oder -gefäße gewaschen und desinfiziert werden. Diese Sauberkeit ist deshalb so wichtig, weil die Chinesen kein zugelassenes Medikament gegen Kryptosporidien am Markt haben und genauso wenig über eine Muttertierschutzimpfung verfügen.
Einfluss des Kolostrums
Und noch etwas haben die Chinesen eindrucksvoll gezeigt: Der Zusammenhang perfekten Kolostrummanagements und der Krankheitsanfälligkeit in den ersten drei Wochen. Kommt dort ein Kalb auf die Welt, ist es spätestens nach 40 Min. mit 4 l bestem (pasteurisiertem) Erstkolostrum (BRIX-Wert über 23 %) versorgt, gewogen, trockengerieben, in frisches Langstroh eingebettet. In der Folge wird es 6 bis 8 Stunden später nochmal mit 2 l Erstbiestmilch (BRIX-Wert über 22 %) versorgt. Damit erreichen die chinesischen Landwirte Bluteiweiß-Werte, die bei uns kaum für möglich gehalten werden. Übergang der passiven Immunität in 99 % der Fälle. Wir erreichen das im Schnitt bestenfalls bei nur zwei von drei Kälbern.
In China erzielt man bei nahezu neun von zehn Kälbern die Höchstwerte von 61 g Totalprotein/Liter Blutserum. Bei uns erreicht man das bei ein bis zwei von zehn Kälbern. So gesehen und nüchtern betrachtet müssen wir einräumen, dass wir, verglichen mit den Chinesen oder auch den Nordamerikanern, eine allgemeine Kälbergesundheit haben, die bestenfalls als durchschnittlich bezeichnet werden kann. Genauso durchschnittlich wie die Vorsorge und auch Fürsorge für unsere Kälber; auch das hat leider auch die PraeRi-Studie gezeigt: Wir geben unseren Kälbern weniger als 3 l Erstkolostrum, während in den USA 4 l und in China sogar 6 l verabreicht werden. Ein solcher, bestenfalls als suboptimal zu bezeichnender, Start schützt vielleicht noch vor Totalverlust, aber die Krankheitsanfälligkeit kann dadurch leider nicht positiv beeinflusst werden. Nicht von ungefähr sind die gesamten Vorsorge- und Behandlungsaufwendungen mit Impfungen und Therapiemaßnahmen mit die höchsten, die wir in den intensiv geführten Milchnationen kennen.
Gleichzeitig leben wir seit jeher mit einem Phänomen, dessen Rationale sich nur schwer erklären lässt. Wir wissen um die Bedeutung der Zusammenhänge von guter Biestmilch und Erkrankungsrisiken. Dennoch tun wir uns in der Summe schwer damit, die Versorgung damit so konsequent umzusetzen.
Stiefkind Transitphase
Es ist hinlänglich bekannt, dass die Biestmilchproduktion in den letzten beiden Wochen vor der Kalbung einsetzt. Jeglicher Stress, dem die Kuh dann ausgesetzt wird, hat einen negativen Einfluss sowohl auf die Menge als auch die Qualität des Erstkolostrums. Viele Betriebe bei uns beschweren sich über eine zu geringe Biestmilchproduktion. In besagtem China, aber auch in den Topbetrieben in den USA zum Beispiel genießen die Vorbereiterkühe paradiesische Verhältnisse. Belegung der Boxen nur zu maximal 80 %, fixe Gruppen und kein Wechsel mehr bis zur Abkalbung. Nicht zu vergessen natürlich das ausreichende Platzangebot an sich von rund 10 m2 pro Kuh und geeignete Maßnahmen gegen Hitzestress. Unter solchen Bedingungen und eine optimale Rationsgestaltung vorausgesetzt, sind 6 l und mehr an qualitativ hochwertiger Biestmilch eher die Regel, denn die Ausnahme und gleichzeitig eine Chance auf den optimalen Start des neugeborenen Kalbes.
Parameter messen
Während die Topbetriebe sowohl die Biestmilchqualität vor Verabreichung und den Übergang ins Blut in der ersten Lebenswoche bei jedem weiblichen Kalb messen, ist das leider bei uns immer noch die Ausnahme. Meist wird es dann nur in problematischen Durchfallphasen gemacht. Das ist leider die Realität und auch wir Tierärzte sind hier ein Teil der Problematik, weil wir die Landwirte noch nicht in aller Deutlichkeit auf diese herausragende Bedeutung des Monitorings beim Kolostrummanagement hinweisen. Das Wissen ist schon seit mehr als 130 Jahre etabliert, aber was haben wir hier tatsächlich bis heute bewirkt? In Ontario/Kanada zeigte ein von der Universität Guelph über 15 Jahre hinweg geleitetes Beratungsprojekt, wie man die Kälbergesundheit nachhaltig verbessern kann. Waren 2004 noch knapp 40 % der Kälber mit Antikörpern unterversorgt, halbierte sich dieser problematische Wert. Mittlerweile ist jede zweite Probe als gut bis sehr gut zu bezeichnen. Weiterhin hat die Beratung erreicht, dass, genauso wie in den USA, eine neue Oberkante zur Beurteilung des Übergangs der Immunität eingeführt wurde. Während wir in Deutschland nur drei Klassen kennen (schlecht, mäßig, gut), wurde der »Exzellent-Bereich« für Serumblutwerte über 6,1 g/dl (bzw. über 9,3 % BRIX) eingeführt und von mindestens drei aus zehn Kälbern erreicht. In den letzten fünf Jahren wurde dieser Wert sogar ein weiteres Mal in den Empfehlungen nach oben korrigiert. Mindestens vier von zehn Kälbern sollten diese Topwerte erreichen. Das hat nicht nur direkte Auswirkungen auf eine signifikante Reduktion der Aufzuchtprobleme, sondern verspricht auch die Entwicklung von späteren Top-Laktierern.
Potenzial nutzen
Solche Blutwerte, bereits in der ersten Lebenswoche, weisen auf spätere Kühe hin, die im Schnitt mehr als 1 000 kg Milch mehr pro Laktation produzieren als Kälber mit niedrigeren Werten. Genau deshalb werden die Messungen in den Topbetrieben auch so konsequent durchgezogen. Wir hinken leider derzeit noch deutlich hinterher. Positiv betrachtet könnte man aber auch sagen, dass wir noch sehr viel Potenzial bei der Kälberaufzucht nicht angefasst haben.
Dr. Peter Zieger