Der Kälberstall von morgen

28. August 2023

Jungtiere haben hohe Ansprüche an Haltung und Fütterung

Kälber profitieren von zugfreien und komfortablen Liegeflächen. Dazu gehört eine weiche und trockene Einstreu. Foto: Zieger

Nach wie vor werden 60 bis 70 Prozent der Kälber einzeln gehalten und mit im Schnitt vier bis sechs Liter Milch pro Tag aus Eimern getränkt. Ein Indiz dafür, dass die Praxis den aktuellen Ergebnissen aus der Wissenschaft hinterherhinkt. Experten aus drei Ländern diskutierten auf dem 39. Rindergesundheitstag des Innovationsteams Milch Hessen mögliche Zukunftsszenarien in der Kälberhaltung und Möglichkeiten, die Jungtiere fortan mit mehr Komfort aufzuziehen.
Für Prof. Nina von Keyserlingk von der staatlichen Universität (UBC) in Kanada, steht außer Frage, dass die Praxis die Erkenntnisse der Wissenschaft künftig schneller aufgreifen müsse – zum einen, um den Kälbern gerecht zu werden, aber auch, um dem zunehmenden Misstrauen der Gesellschaft entgegenzutreten. Kälber, die freien Zugang zu einem Nuckeleimer haben, trinken durchschnittlich 47 Minuten pro Tag. Die Jungtiere nehmen dabei im Schnitt mehr als zehn Liter auf und verteilen diese Menge auf sechs bis zehn Mahlzeiten pro Tag. Ein Beleg dafür, dass auch von der Kuh getrennte Kälber artgerecht aufgezogen werden können, wie die Wissenschaftlerin in ihrem Vortrag verdeutlichte.
Die Realität auf den Betrieben erlebt die Referentin dagegen um einiges anders: Die Betriebsleiter versorgten die Kälber mit zu wenig Milch. Begründet werde dies mit dem aus ihrer Sicht überholten Argument, dass die Jungtiere früh Kraft- und Grundfutter fressen müssten, damit sie sich zu Wiederkäuern entwickeln könnten. Fakt sei aber, so von Keyserlingk, dass Kälber, die mit maximal vier bis sechs Liter pro Tag versorgt würden, fortwährend hungrig seien. »Ein hungriges Tier kann sich nicht normal entwickeln«, unterstrich sie ihre Kritik an der gängigen Praxis.

Genügend Milch, Fasern und Struktur

Zudem höre sie von Landwirten, dass eine frühe Heugabe für kleine Kälber eher schädlich sei. Auch dieses Vorurteil könne mit zahlreichen Studien widerlegt werden. »Kälber brauchen Faser und Struktur, damit der Übergang vom Monogastrier zum Wiederkäuer störungsfrei funktioniert«, erläuterte die Expertin. Kälber die früh Kraftfutter und Heu angeboten bekommen, nehmen ab der vierten Woche mehr Futter auf, was zu einer besseren Pansenentwicklung mit stabilen pH-Werten führe.
Neben den Ansätzen in der Fütterung der Kälber gebe es zahlreiche neue, erfolgreiche Ansätze in der Kälberhaltung. Die früher propagierte Einzelhaltung der Kälber sei nicht das Beste für das Kalb, auch wenn so die Hygiene in der Aufzucht vermeintlich besser gewährleistet werden könne. Die paarweise Aufzucht ab Tag eins oder spätestens ab Tag sechs bis sieben helfe den Kälbern hingegen über viele Stressmomente im Leben hinweg: »Das Absetzen von der Milch gelingt leichter, die frühe Futteraufnahme klappt mit dem besten Freund an der Seite besser und neue Situationen werden von paarweise aufgezogenen Kälbern besser gemeistert«, machte von Keyerlingk deutlich.

Paarweise Aufzucht fördert Sozialverhalten

Ein Phänomen, dass bis zum Eintritt in die laktierende Herde vorherrscht. Das zeigten die Erfahrungen von Landwirten. So können paarweise aufgezogene Kälber später als Färsen stressfrei an das Melken gewöhnt werden. Da die Gesellschaft in der Kälberbox die Futteraufnahme anrege, entwickelten sich paarweise aufgezogene Kälber besser -sowohl in der Tränkephase, als auch danach. Entscheidend sei allerdings, dass paarweise aufgezogene Kälber über genügend Platz verfügten. Zwei Kälber in ein Iglu zu stecken, das eigentlich nur für ein Kalb vorgesehen ist, sei kontraproduktiv. Pro Kalb sollten mindestens 3,2 Quadratmeter (m²) Platz zur Verfügung stehen, auch wenn die Kälber meist gemeinsam in einer Hütte oder Iglu liegen, wenn sie liegen. Aber da der ungenutzte Raum zwischen den Einzelboxen reduziert werde, könnten auf einer gleichgroßen Grundfläche mehr Kälber gehalten werden.
Wohl kaum ein Thema steht derzeit so im Fokus der Öffentlichkeit wie die frühe Trennung von Kuh und Kalb. Auch darauf verwies die Referentin. Viele Gründe, die von Seiten der Praxis für dieses Vorgehen angeführt werden, seien wissenschaftlich nicht haltbar. Die öffentliche Wahrnehmung differenziere nicht, vielmehr werde das Verfahren komplett abgelehnt. Umso mehr sollten sich Landwirte die Kritik vor Augen führen. Ansonsten steige das Risiko, dass künftige Managemententscheidungen zur Kälberaufzucht ohne die Landwirte getroffen würden. »Es kommt immer mehr darauf an, gemeinsame Grundlagen zu schaffen«, sagte die Wissenschaftlerin.
Nina von Keyserlingk rät deshalb zu einer klaren Argumentationskette für die Kommunikation mit der Öffentlichkeit, die derzeit scheinbar keinerlei Varianten bei der Trennung von Kuh und Kalb akzeptiere. Noch vor 20 Jahren war die Einzelhaltung der Kälber nach der frühen Trennung Standard in der Aufzucht. Das Kalb wurde mit vier Litern Milch versorgt und die Jungtiere zeigten kognitive Defizite. Heute habe die Wissenschaft bewiesen, dass es Sinn mache, die Kälber in Paaren oder Kleingruppen aufzuziehen und sie mit mehr Milch zu versorgen, weil das besser für das Kalb und seine ungestörte Entwicklung sei. »Wenn die Wissenschaft in 20 Jahren beweisen kann, dass eine Form der muttergebundenen Aufzucht in allen Betriebstypen realisierbar ist und das Möglichkeiten zur Verbesserung für alle bietet, wird dies letztlich auch umgesetzt werden«, vermutet von Keyserlingk. Derzeit fehle für dieses Vorgehen noch die wissenschaftliche Empfehlung für die Umsetzung. Ein erster Kompromiss könnte demzufolge die paarweise Aufzucht der Kälber sein.

Frühe Kolostrumgabe unerlässlich für Kälber

Was ist der beste Weg in der Aufzucht? Einen interessanten Einblick in die Praxis der Kälberaufzucht und in die Entwicklungen der letzten Jahre in den USA zeigte Prof. Robert James von der technischen Universität in Virginia auf. Wobei es für den emeritierten Hochschulwissenschaftler und aktiven »Calf Blogger« der USA keinen besten Weg an sich gibt. Aus gutem Grund: Denn es müssten immer drei unterschiedliche Perspektiven beachtet werden: aus der Sicht des Kalbes, aus der Sicht des Produzenten und aus der Sicht des Verbrauchers, die jeweils andere Schwerpunkte legten. Die Perspektive des Kalbes sei dagegen klar: »Es kann eine Win-win-Situation werden, wenn die Haltungsumwelt und das Kolostrummanagement optimal gestaltet werden, weil dann das beste Fundament für die weitere gesunde Entwicklung gelegt wird«, betonte James. Die frühe und saubere Kolostrumgabe sei durch nichts zu ersetzen und es sei die Pflicht der Produzenten, ein optimales Management zu gewährleisten und entsprechend zu kontrollieren. »Nur dann ist ein guter Transfer der Immunglobuline gewährleistet. Wenn es gelingt, das Kolostrum der Mutter zu nutzen, können zahlreiche weitere Vorteile für eine gute Immunantwort genutzt werden«, verdeutlichte der Wissenschaftler.

Transitmilch enthält wertvolle Botenstoffe

Prof. James ist ein Verfechter, dass die sogenannte »Transitmilch« genutzt wird. Der Grund: Man wisse inzwischen, dass diese Übergangsmilch vom Kolostrum hin zur Milch wertvolle Botenstoffe für das Kalb und die physiologische Entwicklung biete. Wer nicht aufgrund besonderer Gesundheitsgefahren im Betrieb (Para TB oder BVD) darauf angewiesen sei, pasteurisiertes Kolostrum zu vertränken, sollte es bei der natürlichen Variante belassen, die aber hygienisch einwandfrei gewonnen und vertränkt werden sollte. Auch für die weitere Tränkephase rät der Experte auf das Tränken von Vollmilch in ausreichenden Mengen (mehr als acht Liter), weil die Tiere sich besser entwickelten, mehr viszerales Fett einlagerten und somit mehr körperliche Reserven bilden können, die das Immunsystem längerfristig stärkten. Bis zu einem Alter von vier Wochen fressen die Kälber kaum Kraftfutter, aber ihre Hautoberfläche ist im Vergleich zu älteren Tieren viel größer, sie verlieren mehr Wärme, weil die Oberfläche verhältnismäßig größer ist, so dass sie unbedingt auf eine gute Nährstoffversorgung angewiesen sind, um den erhöhten Erhaltungsaufwand abdecken zu können. Kommen dann noch extra Stressoren hinzu, wie Kälte oder Hitzestress steigert sich dieser Bedarf entsprechend.

Intensive Betreuung der Jungtiere macht sich bezahlt

Auch in den USA hat sich die Kälberaufzucht in den vergangenen Jahren verändert, vor allem große Betriebe setzen neue Empfehlungen schneller um, und die »traditionelle Art« mit wenig Milch und abruptem Absetzen von der Milch geht zurück. Immer stärker wird darauf geachtet, den Kälbern dem Alter und Gewicht entsprechend ein dem Bedarf angepasstes Nährstoffangebot zu machen. Die Qualität der eingesetzten Futtermittel wird hinterfragt und bei der Ökonomie sind nicht die absoluten Kosten entscheidend, sondern die Kosten pro g tägliche Zunahme sowie die Ausfallraten wegen Krankheiten oder Verlusten. Das Ziel in solchen zukunftsorientierten Betrieben ist das Geburtsgewicht bis zum Absetzen zu verdoppeln und eine maximal 25 Prozent (%) umfassende Morbiditätsrate (maximal eines von vier Kälbern darf krank werden).
Damit ist die Perspektive der Produzenten charakterisiert: Das Unternehmen muss profitabel sein und der Produzent muss sich ständig hinterfragen und seine Vorstellungen für die Zukunft des Betriebes und des Managements in zehn bis 20 Jahren definieren. Genau hier spielt die Sicht der Konsumenten eine wichtige Rolle. Am Ende muss sich jeder selbst die Frage beantworten, ob das »traditionelle Modell« der USA mit wenig Kosten und wenig Arbeit der richtige Weg in die Zukunft ist. Aus Sicht des Kalbes ist er das nicht, hier wäre der bessere Ansatz: wenig Kosten pro Kilogramm (kg) Zuwachs, wenig Krankheiten und niedrige Verlustraten, um die Produktivität zu verbessern. Einfach gesagt: Mehr Protein und mehr Fett in der Kälberfütterung rechnen sich am Ende immer – für das Kalb und für den Produzenten.
Damit die Kälberaufzucht gelingt, braucht es ein gutes Kälbermanagement, bei dem wie bei der melkenden Herde der Fokus auf belastbaren Daten liegen muss. Neben Gesundheitsdaten, die am verlässlichsten über automatisierte Tränketechniken gezogen werden, müssen die Qualität des Kolostrums bestimmt und die Gewichtsentwicklung dokumentiert werden. Das gelingt am besten im Team mit dem Fütterer, Herdenmanager, Berater, Tierarzt und anderen Beratern von Seiten der Industrie. Kommunikation ist auch hier der Schlüssel zum Erfolg.

Mit ausgeklügeltem System vom Kalb zur Färse

Mit dem Betrieb Bremer aus dem niedersächsischen Visselhövede stellte sich einer der top-Kälber- und Färsenaufzuchtbetriebe hierzulande vor und zeigte, wie man damit und dem Verkauf tragender Färsen auch in wirtschaftlich angespannten Zeiten Geld verdienen kann. Effiziente Arbeitsorganisation ist dabei der Schlüssel zum Erfolg. In Stichworten fassen Vater Enno und Lukas Bremer ihre Erfolgsgeschichte in diesen sechs Prinzipien zusammen:
– Optimales Wachstum ohne Stress und Gewichtsdegressionen
– Möglichst nur eine Veränderung
– Sanfter Futter- und Stallwechsel
– Optimale Pansenentwicklung (Volumen)
– Keine Mastkälber
– Tägliche Zunahme ist nicht alles
Die 1320 Jungviehplätze befinden sich circa 15 Kilometer entfernt vom Milchviehbetrieb mit 900 Kühen. 700 Färsen werden jedes Jahr aufgezogen, mehr als die Hälfte davon mit einem zu erwartenden Erstkalbealter von 21 bis 23 Monaten vermarktet. Das gelinge nur, so die beiden Betriebsleiter, weil die Kälber mit 4 l kontrollierter Biestmilch gedrencht werden, die ersten fünf Tage Übergangsmilch bekommen und anschließend auf eine inhaltsstoff-kontrollierte Mischung aus Vollmilch und Milchaustauscher für drei Wochen ad libitum gesetzt werden. Die Tränkedauer beträgt acht Wochen. Über das Absetzen hinaus werden die Kälber in klimakontrollierten Einzel-Boxabteilungen gehalten, um nie mehr als einen Stressmoment zur gleichen Zeit auf die Jungtiere einwirken zu lassen.
Im Anschluss kommen die Kälber jeweils zu sechst in einen Gruppenstall mit insgesamt 290 Plätzen auf Stroh. Die gerade Anzahl habe sich als vorteilhaft herausgestellt, weil sich die Kälber erfahrungsgemäß an einem Partnerkalb orientierten. So würden die Kälber oft als Pärchen zusammenliegen und gemeinsam zum Fressen laufen. Damit bestätigten sich die Forschungsergebnisse aus Kanada, die sich mit den sozial-emotionalen Anforderungen von Jungkälbern auseinandergesetzt haben. Auf dem Betrieb von Brenners verfügen die Kälber über mehr als 3 m² Platz. Im Liegebereich wird dreimal wöchentlich Stroh eingestreut, der Fressgang wird täglich abgeschoben. Die ad lib-Fütterung besteht aus 50 Prozent (%) Maissilage, 21 % Grassilage, 10 % feuchtem Körnermais, 18 % Soja mit wenig Protein (Low Protein (LP) und 1 % Mineralfutter. Unterm Strich: 18 % Rohprotein und 21 % Stärke in der Ration. Ab dem neunten Monat erfolgt eine langsame Rationsumstellung hin zu einer rationierten Fütterung mit einer 16-stündigen Futtervorlage. Während die Kälber mit sechs Monaten 6,5 kg Trockensubstanz (TS) aufnehmen, sind es mit zehn Monaten 7,9 kg TS, mit 13 Monaten 8,5 kg TS und mit 19 Monaten 9,5 kg TS.
Die restlichen Monate verbringen die Färsen im zweireihigen Stall in Hochboxen bei einer 1:1-Belegung. Damit haben sie einerseits viel Platz zur Bewegung, genügend Platz zur ungestörten Futteraufnahme, aber auch das Handling, wie beispielsweise fürs Besamen, zu Trächtigkeitsuntersuchungen oder für das Durchtreiben zum Klauenbad ist einfacher und schneller realisierbar. Bremers achten darauf, dass die Kälber gleichmäßig wachsen und damit ein frühes Erstkalbealter von zwölf bis 14 Monaten erreichen. Während bisher zum Teil mit Brunstsynchronisation gearbeitet wurde, steht seit einigen Monaten das Brunsterkennungssystem CowWatch (Firma Nedap) im Stall. Auf dem Betrieb spielt die Organisation der Arbeit eine wichtige Rolle. Durch die kompakte Bauweise der Phasenställe schätzen Bremers die Arbeitseinsparung auf über 60 %. Für 440 Tiere reiche eine Arbeitskraft. 

Dr. Peter Zieger,
Innovationsteam Milch Hessen

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